Schmetterlinge gehören mit fast 160.000 bekannten Arten zu den artenreichsten Gruppen im Tierreich. Vom berühmten blauen Morphofalter bis hin zum Ernteschädling Armeewurm kennen viele Menschen die Schönheit und die verheerenden Folgen, die Arten dieser Tiergruppen auszeichnen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Vielfalt dieser Insekten lange Zeit auf das Zusammenspiel mit anderen Organismen zurückgeführt. Sie vermuteten lange Zeit, dass sich Tagfalter zusammen mit den Blütenpflanzen entwickelten, von deren Nektar sie sich ernähren. Nachtfalter entwickelten ausgeklügelte Abwehrmechanismen als Reaktion auf Fledermäuse, welche ihre gefährlichsten Räuber sind. In einer neuen Studie werden diese klassischen Hypothesen untersucht, indem die frühe Geschichte der Schmetterlinge beleuchtet wird. Unter Verwendung des größten jemals für die Gruppe zusammengestellten Datensatzes erstellte ein internationales Forscherteam mit Bonner Beteiligung einen evolutionären Stammbaum für Schmetterlinge. Sie nutzten zusätzlich Fossilien, um zu ergründen, wann sich bei Tag- und Nachtfaltern Schlüsselmerkmale entwickelt haben. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die ersten Schmetterlinge kurz nach dem Auftreten der ersten Blütenpflanzen lebten. Überraschenderweise entwickelten jedoch mehrere Nachtfalterlinien Millionen von Jahren vor der Existenz von Fledermäusen „Ohren“, die zuvor als Auslöser für die Entwicklung von Hörorganen bei Nachtfaltern galten.
„Mit dem durch Fossilien datierten Stammbaum können wir uns die bisher detaillierteste Darstellung der Evolutionsgeschichte von Tag- und Nachtfaltern ansehen“, sagte der Hauptautor der Studie, Akito Kawahara, Professor und Kurator am vom Florida Naturkundemuseum und McGuire Center für Schmetterlinge und Artenvielfalt. "Wir haben lange darüber nachgedacht, dass blühende Pflanzen zu der außergewöhnlichen Anzahl von Nacht- und Tagfalterarten beigetragen haben müssen, wie wir sie heute kennen. Nun haben wir endlich diese These testen können. Die Studie hilft, zu überprüfen, ob frühere Hypothesen übereinstimmen. Wir stellen fest, dass die Pflanzenhypothese dies tut, die Fledermaushypothese jedoch nicht. “ Die Forschungsergebnisse legen auch nahe, dass Schmetterlinge viel älter sind als bisher angenommen, und dass der gemeinsame Vorfahr der heutigen Tag- und Nachtfalter wahrscheinlich vor etwa 300 Millionen Jahren aufgetaucht ist - ungefähr 100 Millionen Jahre früher als bisher angenommen.
Koevolution im Kreuzverhör
Ein wegweisender Aufsatz von Paul Ehrlich und Peter Raven aus dem Jahr 1964 beschrieben die eng verwobenen Beziehungen zwischen Schmetterlingen und Blütenpflanzen als Grundlage für die Theorie der Koevolution - der Idee, dass verschiedene Organismengruppen sich in jeweiliger Reaktion aufeinander entwickeln. Als Pflanzen Giftstoffe entwickelten, um hungrige Raupen abzuwehren, entwickelten Schmetterlingslarven Möglichkeiten, sie zu tolerieren. Pflanzen wiederum würden ihre „Waffen“ verbessern, was zu einem Wettrüsten zwischen ihnen und ihren Fressfeinden führt. In ähnlicher Weise haben Wissenschaftler, darunter Kawahara, Fledermäuse als treibende Kraft für die Entwicklung spezieller Abwehrmechanismen bei Nachtfaltern angeführt, so zum Beispielultraschallempfindliche Hörorgane, Abwehr-Signale zur Störungen der Echolotung der Fledermäuse und Hinterflügel mit langen, aufwändigen „Schwänzen“, die das Sonar ablenken und ein irreführendes Ziel erzeugen. Diese Abwehrstrategien im „Luftkrieg“ zwischen Nachtfaltern und Fledermäusen können einen Angreifer im Flug ablenken oder die Flucht des verfolgten Tieres ermöglichen.
Die Überprüfung dieser Hypothesen der Koevolution von Blütenpflanzen und Schmetterlingen sowie deren Hörorgane als Antwort auf die Existenz von Fledermäusen erfordert eine Zeitreise in die Vergangenheit - keine leichte Aufgabe bei einer Gruppe von Insekten, die im Fossilienbestand notorisch selten ist. Hinzu kommt, dass Fossilien oft schwierig zu identifizieren sind, wenn es sich um Nachtfalter oder Tagfalter handelt, sagte Kawahara. So wurde ein in Fossilien ursprünglich als Schmetterlingsflügel vermuteter Abdruck erst später als Blatt erkannt. Um solche Fehler zu verhindern, verwendete Kawaharas Team zwei analytische Ansätze. Frühere Studien zu Lepidoptera-Fossilien wurden eliminiert, die fragwürdig erschienen. 16 verbliebene Fossilien wurden mit anderen Schmetterlingen verglichen und ein Konsens darüber gefunden, welche Funde wirklich Nacht- respektive Tagfalter waren. Diese Fossilien dienten der Datierung des Stammbaums, der aus mehr als 2.000 Genen für 186 vorhandene Nacht- und Tagfalterarten aufgestellt wurde. Um diese Daten ein zweites Mal zu überprüfen, erfolgte dieselbe Analyse mit nur drei Fossilien, von denen jedes alle charakteristischen Merkmale einer bestimmten Schmetterlingsgruppe aufwies.
Reisen in Nachtfalterohren
Eine sehr große Überraschung war die Entdeckung, dass im Stammbaum der Nachtfalter die Entwicklung der Hörorgane neunmal unabhängig auftrat. Vier Mal davon vor etwa 91 Millionen Jahren - etwa 30 Millionen Jahre bevor Fledermäuse den Nachthimmel beherrschten.
„Einen alleinigen Evolutionsdruck für die Entstehung des Hörvermögens in der Gruppe der Nachtfalter bildete das Auftreten der Fledermäuse nicht“, meinte Prof. Dr. Bernhard Misof, kommissarischer Direktor am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere in Bonn (ZFMK). „Die Ergebnisse legen nahe, dass mit dem Auftreten der Fledermäuse im Eozän und damit nach dem Aussterben der Dinosaurier der durch die Nachtjäger bedingte Feinddruck im Verlauf der weiteren Evolution zu vielfältigen Spezialisierungen der bereits vorhandenen Hörorgane und auch zu Neuentwicklungen von Hörorganen führte“ ergänzte Marianne Espeland, Florida Museum und ZFMK.
Was konnten Nachtfalter in Zeiten ohne Fledermäuse gehört haben? "Wir wissen es nicht", sagte Kawahara. Er und Prof. Jesse Barber, ein Fledermausexperte stellt die Hypothese auf: „Wahrscheinlich haben sie diese Hörorgane verwendet, um die Geräusche anderer Raubtiere wie Tritte, Fluchtgeräusche oder Rascheln zu erkennen. Erst später entwickelten sich Spezialisierungen der Ohren in einer Weise, dass die Tiere auch das Fledermaussonar hören konnten." Viele Nachtfalter und einige Tagfalter haben je nach Familie „Ohren“ an verschiedenen Körperteilen. Die Mehrheit der Hörorgane befindet sich jedoch in der Nähe der Flügel. Dies ist der optimale Ort, um zu erkennen, ob sich ein Geräusch zum Insekt hin oder von ihm weg bewegt, sagte Studienmitautor Jayne Yack, Professor für Neuroethologie an der Carleton University in Ottawa, Ontario.
"Es ist sinnvoll, die Ohren in der Nähe der Flügel zu haben, wenn man Geräuschen durch geschickte Flugbewegungen ausweichen möchte", sagte sie. Obwohl es eine Überraschung war, dass einige dieser Organe vor Fledermäusen existierten, warnte Yack davor, zu dem Schluss zu gelangen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit von Fledermäusen und ihrer Fähigkeit zu hören gibt. Sie wies darauf hin, dass viele Arten mit Ohren kurz vor dem in der Studie passend angenommenen Zeitpunkt auftreten, zu dem Fledermäuse eine Ultraschall Erkennung entwickelten. "Die überwiegende Mehrheit der Ohren der heutigen Schmetterlinge reagiert empfindlich auf Ultraschall, und zumindest bei einigen Arten wurde nachgewiesen, dass sie Fledermäusen ausweichen", sagte sie. „Bei einigen Arten traten Hörorgane erst auf, nachdem Fledermäuse die Echolokalisierung zum ersten Mal verwendeten. Die Beweise erfordern, dass wir die derzeitige Annahme überdenken, dass sich alle Ohren bei nachtaktiven Faltern als Reaktion auf die Echolokalisierung von Fledermäusen entwickelt haben.“
Der Nektarrüssel als entscheidende Entwicklung
Die frühesten Nachtfalter ernährten sich wahrscheinlich innerhalb von niederen Pflanzen wie Moose als Larven und hatten als Erwachsene Kauwerkzeuge. Die Entwicklung des Saugrüssels, eines aufgerollten strohhalmähnlichen Mundstücks, das Nektar, Pflanzensaft und andere Flüssigkeiten aufsaugen kann, half der Gruppe der Nachtfalter, sich in radiativer Adaptation schlagartig zu verbreiten, sagte Kawahara. Mehr als 99% der heutigen Tag- und Nachtfalter haben einen Rüssel.
Der auf Basis der Fossilienfunde datierte Stammbaum legt den Ursprung der Entstehung der Schmetterlingsrüssel vor etwa 241 Millionen Jahren fest und fällt damit mit der Zeit zusammen, als sich blühende Pflanzen schnell diversifizierten. Die Rüssel halfen frühen Nachtfaltern, Zugang zum Nektar zu erhalten, was ihnen vielleicht ermöglichte, weiter zu fliegen, neue Lebensräume zu besiedeln und neue Wirtspflanzen zu nutzen. Tagfalter, eine viel jüngere und weniger vielfältige Gruppe als diejenige der Nachtfalter, entstanden erst vor etwa 100 Millionen Jahren und sind nur tagfliegende Nachtfalter, sagte Kawahara. "Diese Studie unterstreicht frühere Studien, die zeigen, dass Tagfalter zu der viel größeren Gruppe von Nachtfaltern gehören", sagte er. "Wir schätzen Tagfalter, weil sie oft auffällig und charismatisch sind, aber wir sollten nicht die Nachtfalter vergessen, die genauso auffällig sein können. Nachtfalter und Pflanzen interagierten in einer Zeit, die ungefähr 50 Millionen Jahre vor der zeitgeschichtlichen Phase lag, in der erste Dinosaurier begannen, die Erde zu durchstreifen. Die Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Faltern trugen dazu bei, dass die Vielfalt, die wir heute auf unserem Planeten sehen, noch größer wurde.“
Bildunterschrift:
Die Entwicklung des Saugrüssels, eines gewundenen strohähnlichen Mundstücks, das Nektar und andere Flüssigkeiten aufsaugen kann, trug zur Förderung der Vielfalt der Schmetterlinge bei. Hier trinkt Heliconius hecale, an einer Blüte. Copyright: Eric Zamora/Florida Museum
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Die Forscher veröffentlichten ihre Ergebnisse in den Proceedings der National Academy of Sciences.
Phylogenomics reveals the evolutionary timing and pattern of butterflies and moths
Akito Y. Kawahara, David Plotkin, Marianne Espeland, Karen Meusemann, Emmanuel F. A. Toussaint, Alexander Donath, France Gimnich, Paul B. Frandsen, Andreas Zwick, Mario dos Reis, Jesse R. Barber, Ralph S. Peters, Shanlin Liu, Xin Zhou, Christoph Mayer, Lars Podsiadlowski, Caroline Storer, Jayne E. Yack, Bernhard Misof, Jesse W. Breinholt.
Proceedings of the National Academy of Sciences Oct 2019, 201907847; DOI: 10.1073/pnas.1907847116
Die Autoren der Studie sind:
Akito Kawahara, Akito Kawahara, University of Florida associate professor and curator at the Florida Museum of Natural History's McGuire Center for Lepidoptera and Biodiversity, David Plotkin of the Florida Museum and the UF entomology and nematology department; Marianne Espeland of the Florida Museum and the Alexander Koenig Zoological Research Museum; Karen Meusemann of the University of Freiburg, the Alexander Koenig Zoological Research Museum and the Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation; Emmanuel Toussaint of the Florida Museum and the Natural History Museum of Geneva; Jesse Breinholt of the Florida Museum and RAPiD Genomics; Caroline Storer of the Florida Museum; Alexander Donath, France Gimnich, Ralph Peters, Christoph Mayer, Lars Podsiadlowski and Bernhard Misof of the Alexander Koenig Zoological Research Museum; Paul Frandsen of Brigham Young University and the Smithsonian Institution; Andreas Zwick of the Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation; Mario dos Reis of Queen Mary University of London; Shanlin Liu of China National GeneBank and China Agricultural University; and Xin Zhou of China Agricultural University.
Finanziert wurde die Studie von der National Science Foundation, der China National GeneBank, BGI und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
englische Version der PM: https://www.eurekalert.org/pub_releases/2019-10/fmon-bap101619.php
Ansprechpartnerin: Dr. Marianne Espeland
Sektionsleiterin, Kustodin Lepidoptera Forschungsmuseum Koenig
Tel: +49 228 9122-220
Fax: +49 228 9122-212
Mail: m.espeland [at] leibniz-zfmk.de
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Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig - Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere hat einen Forschungsanteil von mehr als 75 %. Das ZFMK betreibt sammlungsbasierte Biodiversitätsforschung zur Systematik und Phylogenie, Biogeographie und Taxonomie der terrestrischen Fauna. Die Ausstellung „Unser blauer Planet“ trägt zum Verständnis von Biodiversität unter globalen Aspekten bei.
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