Das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels

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Plädoyer für eine aktive Biodiversitätspolitik – damit die Not der Natur nicht zur Not der Menschen wird

24.06.2019

Plädoyer für eine aktive Biodiversitätspolitik – damit die Not der Natur nicht zur Not der Menschen wird

Neues aus der Koenigiana. Von Helmuth Stahl.


Vielleicht setzt sich der Begriff „Biodiversitätspolitik“ nicht durch. Jedoch wird es einer solchen bedürfen – wie es einer „Klimapolitik“ bedarf, deren Bedeutungsmächtigkeit lange unerkannt blieb. Die Gefahr eines „ökologischen Kollaps“ wächst und ist real. Das feststellen ist kein Alarmismus, sondern Ergebnis nüchterner Analysen.

Die Öffentlichkeit beginnt aufzumerken. Dafür steht das erfolgreiche Volksbegehren: „Artenvielfalt – Rettet die Bienen“ in Bayern. Es wird Politik verändern.

Kein Mehr wie bisher

Klima- wie Biodiversitätspolitik zielen auf Erhalt und Sicherung von Lebensgrundlagen. Ohne sie ist ein Weiterleben wie bisher nicht möglich. Ihr Vorhandensein und ihre nahezu grenzenlose Ergiebigkeit setzen gegenwärtige Lebensart und Art zu wirtschaften unbedacht voraus. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht mehr gegeben. Das beweisen schmelzende Eiskappen, „Todeszonen“ in den Weltmeeren infolge Überdüngung und Plastikmüll oder „Das 6. Artensterben“ (Kolbert 2006).

Nur: „Wir bekommen keinen Schrecken, wenn vor uns lautlos die Welt einfach zugrunde geht“ (Lesch 2018). Das liegt mit an der Verschiedenheit der Zeitdimensionen von Natur und Lebensspanne der Menschen – zwar extrem beschleunigt die eine, dennoch zu kurz für das Zeitempfinden die andere. Aber: sie nähern sich an. Das „lautlose Zugrundegehen“ nimmt Fahrt auf.

Da Umwelt und Natur ein „Mehr wie bisher“ nicht mehr schadlos tragen, geraten Gesellschaft, Wirtschaft und Politik unter das Diktat der Evolution – sich anzupassen an selbst erzeugte Schädigungen von Natur und Umwelt. Das ist die große Herausforderung der kommenden Zeit. Gemeinhin ist Menschen das Heute wichtiger als das Morgen. Und hierzulande werden die so erzeugten Probleme noch nicht „schmerzhaft am eigenen Leibe“ erfahren. Und: „Wer weiß, vielleicht wird ja alles doch nicht so dramatisch“. Warum also unbequeme Veränderungen jetzt, wenn Wirkungen sich erst längerfristig einstellen, möglicherweise jenseits der eigenen Lebensspanne? Einschlägig ist aus dieser Perspektive Art. 3 des „Kölschen Grundgesetzes“: „Et hätt noch immer joot jejange“. Sympathisch, aber im Lichte der Fakten und zu erwartenden Entwicklungen problemverschärfend.

Flut Roter Listen

Das Medienecho zum Insektensterben hat mit dem sich weltweit vollziehenden Einbruch der Biodiversität konfrontiert und Sensibilität erzeugt. Insektenforschende Civil Scientists ermittelten, dass in Schutzgebieten in nicht einmal drei Dekaden Dreiviertel des Insektenbestandes verloren ging (vgl. Abb. 1). Dass ist erschreckend, jedoch nicht auf Insekten beschränkt. „Die Flut mittlerweile  veröffentlichter Roten Listen … ist kaum noch zu überblicken“; inzwischen dürften es über 350 sein (Berthold 2017) – quer durch Flora und Fauna, soweit überhaupt eine Erfassung erfolgt bzw. erfolgen kann.

Das sich aktuell vollziehende Massenaussterbeereignis ist Anlass zur Trauer für der Natur zugewandte Menschen. Die Auswirkungen aber gehen weit darüber hinaus. Mit Verlusten an Artenvielfalt in Flora und Fauna drohen zumeist nicht reparable Schädigungen der „Software“, die Natur und damit Nahrungsgrundlagen produktiv macht.

„Von den 370.000 bekannten Pflanzenarten haben nur etwa 150 eine weltwirtschaftliche Bedeutung, Davon ernähren die „Big Five“ (Weizen, Mais, Reis, Hirse und Sojabohnen) 75 % der Weltbevölkerung. Umgekehrt sind seit 1900 drei Viertel aller bekannten Kultursorten verloren gegangen“ (Barthlott 2018). Wer wagt eine Wette darauf, dass die Agrarchemie das „Wettrüsten“ gegen „Schädlinge“ der hochgezüchteten, in Monokulturen (Abb. 2) erzeugten „Big Five“ gewinnt?

„Vögel fressen eine halbe Milliarde Tonnen Insekten im Jahr“ (Anonymus 2018). Das in  Pestizidäquivalente umzurechnen würde lohnen. Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel
und deren schädigende Nebenwirkungen werden ein immer heißeres Thema. „Unsere Erde verträgt keine höheren Dosen an Pestiziden und Düngemitteln mehr“ (Kaulen 2019). Bei Insekten stieg die Zahl derer, die eine Resistenz gegen irgendein Insektizid entwickelten, von 7 im Jahr 1938 auf 553 in 2008 (Losos 2018). In der Biologie und anderen Naturwissenschaften setzen Spekulationen darüber ein, wie und wann Kettenreaktionen und Kipppunktdynamiken („Dominoeffekte“) einsetzen mit unermesslichen Wirkungen (FONA-Programm/ BMBF).

Vernichtung von Erkenntnischancen

Mit dem Artensterben sterben potentielle Erkenntnisdimensionen. „Die Natur bereitet sich anders als Risikoingenieure auf Dinge vor, die noch nicht geschehen sind, und geht davon aus, dass schlimmere Schäden möglich sind“ (Taleb 2014). „Solange wir die Gesetze von Mutter Natur nicht verstehen und auf die große Mehrzahl der Arten übertragen, die der Wissenschaft noch unbekannt sind, werden wir vielleicht nie erfahren, was wir zerstört haben“ (Pimm 2014). „Es geht also nicht nur um das traditionale Noch-nicht-Wissen, sondern um das ungewusste oder unerkannte Nichtwissen; und es ist diese Art des Nicht-Wissen-Könnens, das als „Ursache“ für die Gefährdung der Menschheit angesehen werden muss“ (Beck 2015).

Kern aktiver Biodiversitätspolitik

„Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann“ (Sloterdijk 2012). Wie aber soll es weitergehen? Grundlegend ist: Erkenntnisse gewinnen über Ursachen, Wirkungen, Wechselwirkungen und Auswirkungen von Artenverlusten. Handeln braucht Wissen. Die dramatischen Veränderungen der biologischen Umwelt sind weitgehend unverstanden.
Wissenschaft und Forschung stehen hier in der Pflicht – und die Politik, das zu ermöglichen.
Staat und Kommunen müssen Rahmenbedingungen und Anreize für Erhalt und Sicherung
der Artenvielfalt setzen. Gemeinden und Kreise können viel Praktisches für den Schutz der Biodiversität tun und ihre Vorteile erlebbar machen. Erziehung und Bildung sind Schlüssel zum Erkennen von Bedeutung und Bewahrung einer vielfältigen Natur – je früher einsetzend umso besser. Einzelne, Vereine und Verbände sind die wichtigsten Treiber zivilgesellschaftlichen Engagements für notwendige Veränderungen.

Auch wenn dabei manches manchen querkommt oder sich gegen augenblickliche
wirtschaftliche Interessen richtet, ver dient Einsatz für die Schöpfung Respekt und Ermutigung. Es gilt, viele Handlungsfelder und Aktivitäten zu verknüpfen und möglichst kohärent zu gestalten. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, Gebietskörperschaften und Branchen, Institutionen und zivilgesellschaftliche Akteure auszurichten am Ziel des Schutzes von Flora und Fauna – das ist Kern einer aktiven Biodiversitätspolitik.

Forschung

„Der Rückgang der biologischen Vielfalt führt zum Verlust von Gütern, Leistungen und Werten für den Menschen“ (Leopoldina et al. 2018). Gewiss tragen industrielle Landwirtschaft (Abb. 2–3), immenser Flächenverbrauch und -verdichtung, Lebensstil und Freizeitverhalten, Emissionen und Immissionen aller Art zum Artenverlust bei, global zudem die Vernichtung von Regenwäldern, Raubbau oder Schädigungen der Weltmeere. Aber wie wirkt was im Ökosystem und wie zusammen? Wo liegen Toleranzen, wo Grenzen, was geschieht, wenn was wegbricht, wann und warum treten Kippdynamiken auf, was ist unbedingt schutznotwendig, was eher hinnehmbar? Und insbesondere: was verändert sich wie im Zeitablauf, wann geht was mit welcher Wirkung verloren und wann wird es akut gefährlich?

Auslöser und Kausalitäten werden eher erahnt und vermutet als empirisch ermittelt. Wissenschaft und Forschung haben sich der Fragen und Probleme bisher weder konsequent angenommen noch belastbare Theorien zum Artensterben und seinen Wirkungen entwickelt. Eine systematische, kontinuierliche Erfassung und Vermessung von Zustand und Entwicklung der Biodiversität findet nur vereinzelt statt.

Zwingend ist eine breit angelegte, interdisziplinäre Forschungsoffensive in einem Verbund aus Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen unter Einbeziehung von „Bürger-Wissenschaftlern“. Dazu „ein langfristiges, bundesweites und standardisiertes Monitoring der biologischen Vielfalt“ (Leopoldina u. a.): Nur so sind Veränderungen und die Wirksamkeit von Maßnahmen erkennbar.

Gesellschaft

Hoffnungen, gar Erwartungen allein an „die Politik“ zu richten, ist wohlfeil und eine Fehlerwartung. Art. 20 des Grundgesetzes normiert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Wenn – überspitzt formuliert – das Volk den ökologischen Kollaps ignoriert oder gar negiert, kann „der“ Politik nicht zuvörderst angelastet werden, wenn viel zu wenig geschieht.


Würden Menschen rationale Erwägungen leiten, wie in ökonomischen Modellen unterlegt, wäre Achtsamkeit gegenüber der biologischen Umwelt gesellschaftliche Norm, um künftige, große Risiken abzuwenden. Rationale Bürgerinnen und Bürger würden sie von einer rationalen Politik  einfordern. Dem ist aber nicht so. „Wir haben nämlich in der Evolution – zumindest bisher – nicht wirklich die Fähigkeit erworben, sinnvoll vorausschauend in die Zukunft zu planen, selbst da nicht, wo es um den Fortbestand unserer eigenen Art geht“ (Berthold 2017).

Menschen schätzen, was ihnen Nutzen und Mehrwert verschafft, allenfalls schützen sie, was sie kennen und wertschätzen. Das vor allem spiegelt sich in der öffentlichen Meinung, der Willensbildung des Volkes und in Themen, die Wahlen bestimmen und entscheiden. Daher muss der Fokus auf Verbesserung und Verbreiterung von Kennenlern- und Wertschätzungsstrategien liegen sowie in merkbaren Wandlungen der öffentlichen Problem-Wahrnehmungs-Kultur. Erst das ermöglicht den „Great Mindshift“ (Göpel 2018) hin zu mehr Achtsamkeit für die biologische Umwelt.

Wissen schaffen

Die wichtigste zeitkritische Maßnahme ist eine breit angelegte Forschungsoffensive, verknüpft mit dem Aufbau eines „Zentrums für Biodiversitätsmonitoring“ (pers. Mitt., J.W. Wägele 2018). Das erfordert einen kontinuierlichen, nachhaltigen Aufwuchs von Forschungsmitteln sowie Aufbau einer Forschungsinfrastruktur. Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig etwa hat dazu substanzielle Konzepte vorgelegt. Die Kosten sind zu gewichten mit der Bedeutung des Forschungsgegenstandes. Da von der biologischen Vielfalt „Lebensqualität, Gesundheit und gesellschaftliche Entwicklung“ abhängen und „das Wissen über den Zustand und die Gefährdung der Arten und ihrer Lebensräume von zentraler Bedeutung“ ist (Antwort Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, Drs. 19/6683), sind die Kosten zweifelsfrei begründet und abzuwägen gegenüber alternativen Verwendungen in öffentlichen Haushalten.

Bleiben Ursachen und Wirkungen des Artenschwundes weiterhin unbeforscht oder nur rudimentär erforscht, bleiben Behauptungen, Vorwürfe und Gegenvorwürfe debattenbestimmend. Frustrationsanstieg und die Frage, warum Politik nicht weiß, was sie wissen könnte und müsste, wenn die Probleme virulent werden, wären die Folge.

Stärkung des ökologischen Immunsystems

Unabhängig von notwendigen Erkenntnisfortschritten kann vieles getan werden zur Stärkung des „ökologischen Immunsystems“. Beispielsweise bei Gestaltung von Grünflächen, Parks oder Gärten. „Kaum einem europäischen Großstädter ist bewusst, dass das, was er in der Stadt als Natur erlebt, eher dem Sortiment eines Kolonialwarenladens entspricht als einer natürlich gewachsenen Lebensgemeinschaft“. „Anfang der Achtzigerjahre wurden allein in Deutschland 3312 Baum- und Straucharten kultiviert. Zieht man davon die nur etwa 160 einheimischen ab, ergibt sich eine Gesamtzahl von nicht weniger als 3150 gebietsfremden Arten, das Zwanzigfache des heimischen Angebots“. Das hat Folgen für Insekten, Vögel und andere Tiergruppen.

„Überall grünt und blüht es, aber keiner kann etwas damit anfangen. Was den Gärtner freut, kommt für die Spezialisten unter den einheimischen Tieren einer von Sadisten arrangierten Hungerkatastrophe gleich“ (Kegel 2013). Dazu die „Versteinerung“ von Vorgärten, die sie für Bienen oder Schmetterlinge unbewohnbar macht. Warum nicht Heckenrose, Kornelkirsche oder Holunder statt Kirschlorbeer oder Thuja? Damit wäre für die Biodiversität schon einiges gewonnen, ohne dass es jemandem „weh tut“. Zudem können Städte „durchaus gleichzeitig hochtechnisiert und reich an Natur sein.“ Bei weltweit anhaltendem Trend zur Urbanisierung können „Nature-Smart-Cities“ Leitbildcharakter gewinnen und begrünte Dächer, Mauern und vernetzte Räume entstehen lassen, die bei Aussaat heimischer Pflanzen heimischen Tiergemeinschaften neue Lebensräume verschaffen. Bürgerinnen und Bürger könnten als Citizen Scientists wichtige Aufgaben bei Erschaffung einer urbanen Tier- und Pflanzenwelt übernehmen (Sampson 2018) – ein weites und reiches Feld urbaner Gestaltungsoptionen und kreativer Kommunalpolitik!

Landwirtschaft einfügen in die biologische Umwelt.

Die industrialisierte Landwirtschaft ist volkswirtschaftlich zu teuer und verursacht immense„Risiken und Nebenwirkungen“ für Grundwasser, Klima oder Biodiversität. Die werden über kurz oder lang von der Gesellschaft nicht mehr hingenommen. Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP) ist – so, wie sie praktiziert wird – nicht zukunftsfähig. Wissenschaft und Forschung sind gefordert, ökonomisch wie ökologisch stimmige Wege zur Erzeugung hochwertiger Lebensmittel und Rohstoffe zu erarbeiten. „Eine biodiversitätsfreundliche Bewirtschaftung muss sich lohnen.“ 

Erforderlich sind „Anreize für einen effizienteren Schutz der biologischen Vielfalt und eine vielfältige Landschaftsstruktur… Große Artenvielfalt kann die natürliche Schädlingsbekämpfung stärken und dazu beitragen, direkte Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung zu reduzieren“ (Leopoldina u. a. 2018).

Natur beflügelt

Kinder erfassen die existenzielle Bedeutung der Natur für ihr Leben zumeist intuitiv. Zu beglückenden Erlebnissen gehört, ihr Staunen beim Erfahren der Natur zu erleben. Nur sind pädagogische Situationen für diese Erlebnisse rar geworden. Mit dem Mangel an Chancen dazu entsteht ein Fadenriss vieler junger Menschen bei der Suche nach Ursprünglichkeit. Die Lebens-Welt ist nur als Biosphäre verstehbar – so ungewohnt das unter der Vorherrschaft aktueller Gewohnheiten und Narrative auch ist. Biologie, Biologieunterricht und Stellenwert der biologischen Umwelt sind darin marginalisiert – Fernwirkung einer fehlleitenden Prämisse der frühen Neuzeit: „Die Natur ist so eingerichtet, dass sie sich von selbst erhält. In ihr sind Gesetzmäßigkeiten am Werk, die ihren Bestand garantieren“ (Safranski 2009). Das spiegeln Lehrpläne und Curricula, Ausbildung und Fortbildung von Lehrenden in ihrer Dürftigkeit für das große Zukunftsthema.

Das zu ändern ist Sache der Bundesländer im Kontext einer Biodiversitätspolitik: etwa das Sorgen für Bildungsstandards in der Biologie einschließlich der Kompetenz für Artenkenntnis, angemessene Angebote zur Aus- und Fortbildung von Lehrenden, sowie Anreize für Kooperationen von Schulen und Naturschutzverbänden, die oftmals über eine gute inhaltliche wie pädagogische Expertise verfügen. Nicht um Schulen „noch mehr aufzuladen“ geht es – vielmehr darum, Erziehung und Bildung im Lichte erkannter Risiken neu zu justieren.

Ähnliche Überlegungen können für weitere Themenfelder angestellt werden. Sie alle müssen sich aus der Zivilgesellschaft entwickeln, um in der Demokratie mehrheitsfähig zu werden. Biodiversitätspolitik muss dabei nicht passiv sein – sie kann und muss „fördern und fordern“. Das ist auch ohne Gefahr eines ökologischen Kollapses sinnhaft.

Politik

„Die biologische Vielfalt ist ein öffentliches Gut, für das kein Markt existiert“ (Leopoldina u. a. 2018). Sie ist somit in der Obhut des Staates. Dieser Obhut-Pflicht sind Staat und Europäische Union bisher durch Erlass von Richtlinien, Gesetzen und Verordnungen nachgekommen. Insbesondere das Bundesnaturschutzgesetz dient der biologischen Vielfalt und der Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes.

Das bleibt wichtig, ist gemessen an den Risiken eines „ökologischen Kollaps“ allerdings bei weitem nicht hinreichend. Das geltende Recht hat dramatischen Artenschwund und -implosion nicht verhindert und kann das zukünftig nicht. Auch internationale Konventionen und Übereinkommen wie CITES oder UN-Biodiversitätskonvention leisten das nicht. „Keines dieser Dokumente bringt juristische Verpflichtungen mit sich, aber sie alle stehen für eine neue, sich langsam entwickelnde Ethik, wonach die Natur an sich einen Wert darstellt“ (Boyd 2018). Politik braucht Mut für einen neuen Politikansatz, den neuen Anforderungen angemessen zu begegnen. Ein Einstieg ist gemacht. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition im Bund nennt erstmals den Schutz der biologischen Vielfalt als Auftrag von Regierungshandeln. Zudem soll ein „wissenschaftliches Monitoringzentrum zur Biodiversität“ entstehen.

Lernkurven erzeugen.

Damit Wollen erdet, bedarf es der Konkretisierung. Bei ihrem Start könnte eine Biodiversitätspolitik durch substanzielle ideelle wie materielle Förderung darauf setzen, „die Menschen mitzunehmen“ beim Prozess notwendiger Veränderungen. Ein breites Spektrum von Anreizen ist denkbar: vom „Nudge“ im Sinne eines „libertären Paternalismus“ (Thaler & Sunstein 2017) über  Gestaltungswettbewerbe für Parks und Gärten, Selbstverpflichtungen von Unternehmen oder  Gebietskörperschaften, nachhaltige Blühstreifen-Förderung bis hin zu Taxonomie-Lernprogrammen. Dazu Ausweitung von Vertrags-Naturschutz, Systematisierung von Biotopverbünden oder Förderung und Implementierung von Monitoring-Techniken. Manches davon geschieht bereits – jedoch eher im durchaus schätzenswerten „Kleinen“ und „Für sich“, ohne das Dach eines bundesweiten Gesamtkonzepts.

Auch ordnungsrechtlicher Maßnahmen müssen dazugehören, etwa das Unterbinden
von „Gülle-Verklappungen“ oder des Einsatzes die biologische Umwelt nachhaltig schädigender Pflanzenschutzmitteln. Fehlanreize wie die zu einem verstärkten Anbau von Mais müssen ebenso entfallen wie Fehlallokationen, die Artenschutz konterkarieren.

Forschungsoffensive und Monitoring von Biodiversität eingeschlossen kann Biodiversitätspolitik eine gesellschaftliche „Lernkurve“ erzeugen, die Veränderungsnotwendigkeiten vermittelt und Akzeptanz schafft. Damit könnten auch Mehrheiten erreicht werden, um einen ökologischen Kollaps abzuwenden.

Baers Gesetz gilt

Das zu stemmen ist eine große, komplexe Aufgabe für Staat, Kommunen und ihnen zugeordnete Institutionen. Für den Erfolg ist die Ebene bedeutsam, auf der die „Kompetenzkompetenz“ angesiedelt würde. Nicht zielführend wäre die Verteilung von Teilzuständigkeiten auf verschiedene Ressort oder eine Zuweisung auf nachgeord nete Institutionen. Da bedarf es schon eines „Kopfes“ – auch zur Koordinierung, etwa zwischen Bund und Ländern im föderalen Aufbau der Republik. Eine Biodiversitätspolitik wird sich nicht streitfrei etablieren und widerstandslos durchsetzen. Vielleicht hilft eine Einsicht aus dem 19. Jahrhundert; nach „Baers Gesetz“ durchlaufen bedeutsame  Neuerungen drei Stadien: zuerst werden sie diskreditiert, dann als gegen alle Vernunft verstoßend kritisiert und schlussendlich akzeptiert, selbstverständlich unter ausdrücklicher Betonung früherer Gegner, dass sie das ja schon immer gesagt und gewollt hätten.


Danksagung
Luise Hauswirth und Ralf Joest, Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz (ABU) e.V., Biologische Station, Bad Sassendorf-Lohne, Dr. Katharina Schmidt-Loske, Karin Ulmen und Dr. Thomas Gerken (alle ZFMK Bonn) gebührt Dank für die Foto-Vorlagen.

Literatur siehe pdf

Autor: Helmuth Stahl, AKG, H.Stahl [at] leibniz-zfmk.de

KOENIGIANA Band 13 (1) 2019 3–12 Bonn, Juni 2019 ISSN 2627-0005

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